Silicon Valley Insights Vol 4

In meinem letzten Blogbeitrag habe ich den Prozess der Produktentwicklung beschrieben, den ich hier täglich im Silicon Valley erlebe: Start-ups und etablierte Unternehmen entwickeln rasch ein sog. MVP (Minimal Viable Product), ein sogenanntes “minimal fähige Produkt”, das gerade noch funktioniert, um sich von Betakunden Feedback zu holen, entwickeln auf Basis dieser Feedbacks das Produkt so rasch wie möglich weiter, wobei Immer der Kundennutzen radikal im Mittelpunk steht. Dabei kommt es immer wieder zum sogenannten „pivoten“ , einem „drehen“ (verändern) der Geschäftsmodelle oder Produkte. Aus der Lean Start Up Methode kommend ist dieser Zugang hier im Silicon Valley omnipräsent, das erlebe ich hier täglich. Was dieser Zugang nun aber für mittelständische Unternehmen bedeutet, darum geht es in diesem Beitrag.

Was “PIVOTEN ist

Die sprachliche Quelle von "pivoting" liegt im französischem Wort "pivot", was so viel wie "Drehpunkt" oder "Angelpunkt" bedeutet. Das Wort "pivoting" ist auch aus dem Basketball bekannt, wo ein Spieler, der den Ball hält, sich zwar umdrehen kann, aber mit einem Fuß fest am Boden bleiben muss (den sogenannten Pivot-Fuß), während er mit dem anderen Fuß seine Position oder Richtung ändert.

  • Diese Bewegung wurde metaphorisch auf die Geschäftswelt übertragen, da ein Unternehmen einen Fuß (eine Ressource, eine Fähigkeit oder eine Komponente des Geschäfts) fest verankert, während es den anderen "Fuß" bewegt, um die strategische Ausrichtung oder das Geschäftsmodell zu ändern.

Ein Pivot im unternehmerischen Kontext kann viele verschiedene Formen annehmen, wie zum Beispiel:

  • Zielgruppenänderung: wenn ich ein Produkt entwickle, muss ich lernen den Kunden zu verstehen, ich muss seine Bedürfnisse, Interessen und Probleme kennen und lösen. Dabei ist es entscheidend den idealen Kunden in Form einer „Persona“ so genau wie möglich zu beschreiben, durch diesen Prozess kann sich die Zielgruppe verändern.   

  • Geschäftsmodellwechsel: Die Ertragslogik eines Unternehmens kann sich vor allem durch Künstliche Intelligenz und Datenanalaysen entscheidend verändern. Vor allem von einer Produktherstellung hin zu einer Serviceorientierung, wo die generierten Daten zum Nutzen für den Kunden strukturiert und verwendet werden.

  • Vertriebskanaländerung: Ein Pivot kann aber auch bedeuten, dass ein Unternehmen seine Produkte oder Dienstleistungen über andere Kanäle vertreibt, wie den Wechsel von einer physischen Verkaufsstelle hin zum Online-Verkauf.

Praktische Beispiele

Wenn wir uns die Erfolgsgeschichten von Unternehmen ansehen, dann sind sie fast immer das Ergebnis eines „pivoting“ Prozesse, wie zum Beispiel:

  • Twitter (nun X): Zu Beginn war Twitter ein rein internes Projekt des Podcasting-Unternehmens Odeon und diente zur schnellen und unkomplizierten Kommunikation zwischen den MitarbeiterInnen. Als Apple jedoch den Podcast-Markt mit iTunes dominierte, musste Odeo sein Geschäftsmodell überdenken. Aus einem internen Brainstorming kam die Idee für ein SMS-basiertes soziales Netzwerk hervor – und so wurde Twitter geboren.

  • Shopify: 2004 startete Tobias Lütke mit seinen Partnern Daniel Weinand und Scott Lake den Onlineshop Snowdevil, mit dem er aus seiner Garage Snowboards vertrieb. Als die Gründer feststellten, dass es keine zufriedenstellende Software gab, um ihren Online-Shop zu betreiben, entwickelten sie ihre eigene – und das wurde der Beginn von Shopify.

  • YouTube: Die YouTube-Gründer Jawed Karim, Chad Hurley und Steve Chen lernten sich kurz nach der Jahrtausendwende beim gemeinsamen Arbeitgeber Pay Pal kennen. Bevor YouTube zur dominierenden Plattform für Video-Hosting wurde, startete es ursprünglich als eine Video-Dating-Seite namens "Tune In Hook Up". Die Gründer änderten jedoch rasch die Richtung, als sie das Potenzial einer allgemeinen Video-Sharing-Seite erkannten.

  • Instagram: Bevor es zu der bekannten Foto-Sharing-App wurde, startete Instagram als "Burbn", eine Check-in-App ähnlich wie Foursquare, die es den Nutzern auch ermöglichte, Fotos zu teilen. Am 06. Oktober 2010 gaben die Gründer Kevin Systrom und Mike Krieger schließlich der App den Namen, unter dem sie nun die Meisten kennen: "Instagram". 

Um einen sogenannten “product-markt fit” zu finden, ist der ständige Kontakt mit dem Kunden notwendig, um von ihm zu lernen, zu erfahren, wie ich mit meinem Angebot sein Problem lösen kann. Dazu braucht es eine Offenheit und Bereitschaft, bereits erarbeitetes wieder zu ändern und loszulassen.

pivoten bei mittelständischen Industrieunternehmen

Gerade in Europa können mittelständische Industrieunternehmen oft auf eine ganz lange Erfolgsgeschichte zurückblicken, die von Stabilität und Tradition geprägt ist. Die Welt verändert sich aber derzeit rasant, egal ob Klimawandel, steigende Zinsen oder Arbeitskräftemangel, in vielen Branchen bleibt kein Stein auf dem anderen. Und vor allem Künstliche Intelligenz wird in vielen Bereich völlig neue Möglichkeiten und neue Geschäftsmodelle ermöglichen, wie zum Beispiel:

  • Servitization (Serviceorientierung): Statt nur Produkte zu verkaufen, können Industrieunternehmen auch Dienstleistungen anbieten, die mit ihren Produkten verbunden sind. Zum Beispiel könnte ein Maschinenhersteller Wartungs- und Reparaturdienstleistungen, Schulungen oder sogar Leistungsgarantien bieten.

  • Data-Driven Services (Datenbasierte Dienstleistungen): Unternehmen könnten die von ihren Produkten generierten Daten nutzen, um neue Dienstleistungen anzubieten. Wenn z. B. Produktionsunternehmen ihre Maschinen herstellen, dann generieren sie immer sehr viele Daten, die meistens ungenutzt im Unternehmen bleiben.

    • Beispiel: Gerade bei hochkomplexen Maschinen sind Wartungen teuer, der Turbinenhersteller Rolls-Royce ist hier Best-Practice Beispiel, wie Produktionsunternehmen neue, hochprofitable Geschäftsmodelle entwickeln können.

  • Subscription-Modelle (Abonnementmodelle): Kunden zahlen für einen kontinuierlichen Zugang zu einem Produkt oder Service, anstatt es einmalig zu erwerben. Dies schafft einen wiederkehrenden Umsatzstrom, stärkt die Kundenbindung und vertieft das Kundenfeedback. So könnten mittelständische Industrieunternehmen mit solchen Modellen bestehende Kundenbeziehungen vertiefen, den Nutzen treffsicherer gestalten und ständig Feedback einholen.

  • Additive Manufacturing: Einer der wichtigsten Trends ist die die Individualisierung von Produkten, das sogenannte “customizing”. Mit dem Einsatz von 3D-Drucktechnologien könnte man maßgeschneiderte oder On-Demand-Produktion anbieten, die eine hohe Anpassung an spezifische Kundenwünsche ermöglichen.

  • Direct-to-Consumer (D2C): Hersteller könnten traditionelle Vertriebskanäle umgehen, um direkt an Endverbraucher zu verkaufen, was höhere Margen und eine direkte Kundenbeziehung ermöglicht.

  • Platform-based Models: Die Etablierung von Online-Plattformen stecken im Industriebereich noch in den Kinderschuhen, Uber und AirBnB haben uns gezeigt, wie es gehen kann. Die richtigen Partner (z.B. Lieferanten, Kunden, Serviceanbieter) zur richtigen Zeit effizient und ressourcenschonend zusammenzubringen, das wird in Zukunft den Unterschied ausmachen.

Aubslick

Es bieten sich derzeit unzählige Möglichkeiten neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, vor allem für etablierte mittelständische Industrieunternehmen. Meiner Erfahrung nach liegt es nicht an mangelnden Möglichkeiten, sondern oft an der internen Bereitschaft, Offenheit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, bestehende Produkte und Dienstleistungen zu “pivoten”. Was auch verständlich ist, denn man verlässt gewohntes Terrain, begeht neue Wege, investiert Ressourcen und man weiß am Anfang nicht, ob dies funktionieren wird. Aber da könnte uns ein wenig Mut und Risikobereitschaft nicht schaden.

Wie dies gelingen könnte, was dazu notwendig ist und was Sie konkret tun können, das erfahren Sie in meinem nächsten Blog aus dem Silicon Valley.

Autor: Mag. Werner Sattlegger, Founder Art of Life

Nächste Lernreise: 03. Juni - 07. Juni, 2024,

Werner Sattlegger: “Die Kunst reifer Führung”, 2022

 

Autor: Werner Sattlegger
Founder & CEO Art of Life

Experte für digitale Entwicklungsprozesse, wo er europäische mittelständische Familien- und Industrie-unternehmen von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.