Grundformen der Angst

Unsicherheiten und Ängste werden in vielen Organisationen nicht offen angesprochen, oft bleiben sie verdeckt, unbewusst und manifestieren sich in Widerstände. Führungskräfte sind heute gefordert, sich offen und ehrlich mit diesen Ängste auseinanderzusetzen.

Aus der Systemtheorie kennen wir die Macht der Systeme und deren Einfluss auf die Verhaltensökonomie der Menschen. Gleichzeitig trägt aber jedes „Rädchen“, also jeder Mensch, in einem System zum Ergebnis des Systems bei. So etwas wie das “Organisationssystem” oder die Unternehmenskultur „da draußen“ gibt es nicht. Jeder einzelne Mitarbeiter oder jede Führungskraft in einer Organisation trägt zur Qualität des Ergebnisses oder der Unternehmenskultur bei. Und das durch sein Verhalten, seine Art zu kommunizieren oder sein Bewusstsein.

Dabei wird oft vergessen, dass sich erst dann ein Reifegrad in einer Unternehmenskultur entwickeln kann, wenn ein offener und ehrlicher Umgang mit Ängsten und Widerstände ermöglicht wird. Angst und Widerstand entstehen vor allem an der Grenze der Komfortzone , dort wo die Lernzone und damit persönliches Wachstum beginnt.

  • Grundformen der Angst

Der Psychoanalytiker Fritz Riemann hat in seinem wegweisenden Buch "Grundformen der Angst" aus dem Jahr 1961 dargelegt, dass alle Ängste letztlich auf bestimmte Grundformen zurückgeführt werden, die wir alle in uns tragen und meistens eine davon prägend sichtbar wird. Der Schweizer Paartherapeut Christoph Thomann verwendete Grundformen der Angst, um Paaren das polarisierende und eskalierende Beziehungsgeschehen plastisch darzulegen. Gestützt darauf erklärte er seinen Klienten, was mit ihnen und in ihrem zwischenmenschlichen Dasein ablaufe. Die Klienten waren fasziniert und dankbar, denn es war für sie entlastend, dass sie in Ordnung waren, so wie sie waren. Denn all diese Richtungen sind weder nur gut und schlecht, sondern versuchen das Leben in seiner Vielfalt abzubilden.

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  • Die erste Angst bringt Menschen dazu, Distanz zu halten.·     

    Der sog. “Distanztyp” will nicht beeinflusst werden, braucht Abstand und scheint erst einmal niemanden zu brauchen. Oft kühl und unnahbar ist dem “Distanztyp” die Unabhängigkeit wichtig, vor allem aber: Unverwechselbarkeit, Freiheit, Individualität, Eigenständigkeit, rationales Denken und Handeln !

  • Die zweite Angst läßt Menschen die Nähe zu anderen Menschen suchen.

    Der sog. “Nähetyp” braucht Wärme, Bestätigung, ist oft selbstlos bis zur Selbstaufgabe, kann sich leicht mit anderen identifizieren und sich selbst vergessen. "Nähemenschen" sind kontaktfähig, teambereit, ausgleichend, akzeptierend und verständnisvoll, neigen aber daher zur Selbstaufgabe und Abhängigkeit.

  • Die dritte Angst bedingt, dass man Veränderung nur schwer aushalten kann.

    "Dauermenschen" sind sehr verlässlich, systematisch, gründlich, ordentlich. Sie haben oft ein Organisationstalent und sind prinzipientreu. Daher meiden sich auch Veränderung und das Neue.

  • Die vierte Angst verhindert, sich zu binden, Verantwortung im Leben zu übernehmen.

    “Wechselmenschen” sind das Gegenteil der so genannten Dauermenschen. Alles, was mit Leidenschaften, Reizen und Phantasie zu tun hat, ist für sie sehr wichtig. Sie suchen die Spontaneität, das Risiko oder die Abwechslung. Jede Fixierung oder Bindung ist bedrohlich, man solche Menschen kaum festlegen, noch was ausmachen.

Jeder Mensch hat nicht nur eine Grundausrichtung, sondern ein Mischung aus allen, wobei aber meistens eine Richtung bestimmend ist. Das Modell ist kein Persönlichkeits-Typologien-Modell für professionelle Psychotherapeuten, sondern dient als Orientierungshilfe für ein systemisches Konflikt-Reaktions Modell.

Persönlich bin ich bei solchen Modellen immer sehr skeptisch, denn Menschen sind unverwechselbar und einzigartig, vor allem kann man sie nicht schubladisieren. Aber es gibt Phänomene und Ausrichtungen, dessen Kenntnisse kann in vielen Situationen Erleichterung bringen, vor allem in Zeiten der Veränderung.

  • Erkenntnisse der Neurobiologie

Zugang zu Ängsten findet man erst auf einer tieferen Ebene, jenseits des kognitiven Grübelns oder verbalen Analysen. Selbsterkenntnis ist oft schmerzhaft, mühsam und langwierig, aber er zahlt sich aus, will man Kapitän des eigenen Lebens werden. Der Weg dorthin kann über kreative Prozesse, Zeiten der Innenschau oder reifen, reflektierenden Gruppen stattfinden und führt meistens zu sehr alten Verletzungen: wo man sich als Kind abgewiesen, ausgeliefert, betrogen, enttäuscht, hilflos, unverstanden oder missbraucht gefühlt hat.

Seit den neurobiologischen Forschungen von Prof. Hüther verstehen wir die neuronalen Muster im Gehirn wesentlich besser. Wir finden im Gehirn neuronalen Wege, Landstraßen und Autobahnen, die sich manchmal schon im Mutterleib bilden.  Die gute Nachricht ist, dass sich die alten Verschaltungen im Gehirn auflösen und neu bilden können. Dafür braucht es aber Zeit und viele neue Erfahrungen.

  • Was bedeutet es für Führungskräfte

Führungskräfte sind keine Therapeuten oder Psychologen.  Aber Grundkenntnisse dieser Phänome, Zugang zu den Ängsten und den Mut diese in Organisationen anzusprechen, würde vieles in Organisationen bei Veränderungsprozessen möglich machen.

Umgang mit Angst kann weder als Managementtrick noch bei einem Executivetraining  erlernbar sein, sondern kann sich nur in einer reifen Persönlichkeit heraus entwickeln. Eine Führungskraft, die sich mutig für das Unbekannte öffnet, die bereit ist, nicht nur Risiken einzugehen, sondern auch bereit ist, Konflikte einzugehen und Dinge offen anzusprechen, eine Persönlichkeit, die Zuhören kann, mit hoher Glaubwürdigkeit Vertrauen und Offenheit Aufbauen kann.

Wenn Organisationen Scheinaktivitäten eliminieren und Führungskräfte lernen mit eigenen Ängsten und den der anderen umzugehen, dann können Organisationen wieder das werden, was sie eigentlich sein sollten: Orte der Potentialentfaltung und des kreativen Schaffens.

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Autor: Mag. Werner Sattlegger, Founder and Director Art of Life, Buchautor

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