Die Furcht vor der Freiheit

Authentisches Leadership im Zeitalter der Angst

Geschichte Wildgänse von Sören Kirkegaard: 

Ein Haufen schnatternder Gänse wohnt auf einem wunderbaren Hof. Sie veranstalten alle 7 Tage eine herrliche Parade. Das stattliche Federvieh wandert im Gänsemarsch zum Zaun, wo der beredtste Gänserich mit ergreifenden Worten schnatternd die Herrlichkeit der Gänse dartut. 
Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, wie in Vorzeiten die Gänse mit ihrem mächtigen Gespann die Meere und Kontinente beflogen haben. Er vergaß nicht dabei das Lob an Gottes Schöpfermacht zu betonen. Schließlich hat er den Gänsen ihre kräftigen Flügel und ihren unglaublichen Richtungssinn gegeben, dank deren die Gänse die Erdkugel überflogen.

Die Gänse sind tief beeindruckt.

Sie senken andächtig ihre Köpfe und drücken ihre Flügel fest an den wohlgenährten Körper, der noch nie den Boden verlassen hat. Sie watscheln auseinander, voll Lobes für die gute Predigt und den beredten Gänserich.

Aber das ist auch alles.
Fliegen tun sie nicht, denn das Korn ist gut, und der Hof ist sicher.“

Diese Parabel stammt vom dänischen Philosophen, Essayisten und Theologen Sören  Kierkegaard (1813 – 1855), der sich in seinem kurzen Leben intensiv mit dem menschlichen Daseins, der Lebensangst und mit Fragen beschäftigt hat, wie kann ich ein eigenverantwortliches und authentisches Leben führen.   Was hat nun Kirkegaard ausgezeichnet, dass er nicht nur Generationen an Philosophen beeinflusst hat, sondern heute aktueller denn je ist?

Geboren in Kopenhagen und aufgewachsen „im gutem Haus“ im spießbürgerlichen Dänemark, angewidert von einer verlogenen und oberflächlichen Gesellschaft, die nur auf äußerliches Sozialprestige Wert legt. In seiner Kindheit aufgewachsen unter einem autoritären Vater, sehnte er sich bald nach Freiheit und entwickelte dabei seine existentiellen Grundgedanken, die damals niemand verstanden hat:

Wir Menschen sind frei zu entscheiden, frei zu handeln und ein Leben zu führen nach unseren Vorstellungen, um unsere Potentiale zu leben. Wir müssen uns nicht anbiedern und uns in einem verlogenen gesellschaftliches Spiel verlieren wo der Mensch nur eine Ware ist und vor allem von einer christliche Scheinmoral getragen wird“ , betonte Kirkegaard, der früh und arm gestorben ist, ohne dass seine Bücher damals einen Verleger gefunden haben.

Nach Kirkegaard gibt es einen Grund, der uns von der Freiheit ein eigenverantwortlichen Leben zu führen: Angst!  Eine existentielle Angst Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, im sprichwörtlichen Sinn der obigen Geschichte „seine Flügel auszubreiten“, – genau diese Angst haltet auch die Gänse davon ab zu fliegen. Lieber ein Leben in der Komfortzone und Scheinsicherheit zu führen, lieber ein Leben in der Opferrolle, “wir können eh nichts tun” und “die anderen sind Schuld”. Das ist einfacher und bequemer, aber macht auf Dauer krank. Kirkegaard war damit der erste Philosoph, der sich intensiv mit der Angst beschäftigt hat, vor allem diese als Hauptblockade für ein eigenverantwortliches Leben definiert hat.

Das Zeitalter der Angst

Gerade die Pandemie hat gezeigt, dass es unter der Oberfläche unserer Gesellschaft brodelt, eine tief verbreitete Angst und Kollektivneurose unseren Alltag prägt, dem sich kaum jemand entziehen kann. Diese Angst wurde durch unser Gesellschaftssystem gezüchtet, lange unter Oberfläche verdeckt, verdrängt und abgelenkt, nun kommt diese Angst in vielen Bereichen zum Vorschein.

  • Wenn Erfolg alles ist

Im Zeitalter der Postmoderne beziehen nach wie vor viele Menschen gesellschaftliche Anerkennung aus der Ansammlung von Geld, sozial anerkannten Stellung und damit „beruflichem Erfolg“. In einem System bürgerlicher Abhängigkeiten werden heute noch viele Seilschaften von Günstlingen geschaffen, wo oft wirtschaftlicher Erfolg begründet ist, der nicht auf persönliche Leistungen beruht. Menschen sind in solchen Systemen vor die Entscheidung gestellt, sich diesem Netz an Seilschaften und Abhängigkeiten anzuschließen.

Beziehungen und Mensch werden dann zu Tauschwaren, wo  das von Jean Paul Sartre beschriebene „mauvaise fois“ – Unaufrichtigkeit – gelebt wird. Die Alternative ist aus diesem System draußen zu bleiben und sich  selber treu zu bleiben, mit dem Preis oft nicht am „Futtertrog“ teilzunehmen. 

In diesen Systemen mit Schmeicheleien oder kurzfristige soziale „Preisverleihungen“ wie Beförderungen und tollen Autos wird oft das funktionale Interesse mit dem Interesse an der eigenen Person verwechselt. Beziehungen werden so nicht nur verzweckt, sondern Menschen zu Tauschwaren. In dem Buch „Wege einer kranken Gesellschaft“ hat der Psychoanalytiker Erich Fromm schon vor einem halben Jahrhundert auf die Entfremdung der Menschen in einer kranken Gesellschaft hingewiesen und unsere Fluchtmechanismen in autoritäre, destruktive oder konformistische Systeme beschrieben.  

  • Authentizität

Den Wert, den wir über unsere soziale Stellung, unseren Materialismus oder unseren Beruf erhalten sind aber alles nur geliehene Werte, die nichts mit unseren Wert als Menschen und unseren Leistungen zu tun haben. Wenn diese äußeren Wertzuschreibungen wegfallen, was bleibt dann von einem selbst? Welchen Wert gebe ich mir selber, wenn ich unbeirrbar meinen Weg gehe, der getragen ist von Eigenverantwortung und Authentizität?

Our dependency makes slaves out of us, especially if this dependency is a dependency of our self-esteem. If you need encouragement, praise, pats on the back from everybody, then you make everybody your judge.“
(
Fritz Perls)

Viele Menschen stürzen in existentielle Krise, wenn diese externen “Wertgeber” wegfallen, von denen wir uns für den eigenen Selbstwert versklavt haben, wie der Psychiater Fritz Perls schreibt.

Oft sind wir aber auch zur falschen Zeit am falschen Ort. Beispiele dafür gibt es aber in allen anderen Bereichen wie Kunst, Kultur oder Sport:  Großartige Denker wie Kirkegaard, Künstler wie van Gogh oder Schriftsteller wie Kafka haben Zeit Ihres Lebens nie die Anerkennung erhalten. 

Was ich sagen möchte – die Qualität der eigenen Leistung ist nicht gleich ident mit dem wirtschaftlichen Erfolg, das ist gerade in Zeiten der Krise für viele Menschen wichtig zu wissen. Und wirtschaftlicher Erfolg hat schon gar nichts mit dem eigenen Wert zu tun.


Leadership im Zeitalter der Angst

In seinem im Jahr 1843 erschienenem gleichnamigen Werk „Entweder-Oder“ geht es bei Kirkegaard um eine Frage: entweder ich springe in ein eigenverantwortliches Leben oder ich bleibe auf den Klippen stehen. Später wurde es um 1920 in der Psychotherapie bei Wilhelm Reich unter Lustangst bekannt, die tiefsitzende Angst ein lustvolles Leben zu führen.

Kirkegaard nannte die „Angst den Schwindel der Freiheit“, man schaut in den Abgrund, es wird einem schwindelig. Im Leben geht es genau darum, diesen Schwindel bzw. Angst zu fühlen, anzuschauen und sich der Angst damit zu stellen. 

Vor allem auszuhalten, dass ich Entscheidungen treffen muss, die auch ein Nein beinhalten. Diese werden im Laufe meines Lebens immer mehr und ich muss als Mensch aushalten, dass ich nicht alle Möglichkeiten leben kann und das Leben damit Grenzen hat. 

Nie fertig zu werden, diese Neins auszuhalten, sich dieser Angst zu stellen und sie zu spüren und trotzdem bei sich anzukommen. In diesem ständigen Werden und Wandeln, das ist eine der großen Grundspannungen, die heute aktueller sind wie nie zuvor und für die es auch keine einfachen Antworten gibt.

Gerade jetzt müssen sich Führungskräfte und Organisationen sich diesen Fragen stellen, vor allem den Ängsten und Unsicherheiten. Radikal und offen, ehrlich und transparent geht es darum ein Unternehmen authentisch zu führen. Sich frei zu machen von Gefälligkeiten, Seilschaften, Wichtigtuereien, Prahlereien oder sonstigen Abhängigkeiten, sondern als Unternehmen Produkte und Dienstleistungen anzubieten mit Sinn, Bedeutung und einen echten Mehrwert für die Menschen und die Welt, darum geht es jetzt.

Wenn das gelingt, dann muss man sich keine Zukunftssorgen machen, aber man benötigt dafür zwei Eigenschaften: Mut und Vertrauen.

Diese nun zu entwickeln, das ist das Gebot der Stunde. 

Autor: Mag. Werner Sattlegger, CEO und Founder der Art of Life

Werner Sattlegger ist Experte für digitale Entwicklungsprozesse, wo er europäische mittelständische Familien- und Industrieunternehmen und Führungskräfte von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.

Autor: Werner Sattlegger
(CEO & Founder Art of Life)

Literaturtipps:

Werner Sattlegger, “Die Kunst reifer Führung”, 2021

Hermann Deuser, Markus Kleinert: Søren Kierkegaard: Entweder - Oder

Erich Fromm: Die Frucht vor der Freiheit

Erich Fromm: Wege aus einer kranken Gesellschaft

Wilhelm Reich: Charakteranalyse

Fritz Riemann: Grundformen der Angst