Der „Black Swan“ ist gelandet

„Stellen Sie sich einen Truthahn vor, der wohlbehütet bei einem Bauern aufwächst. Jeden Tag erhält dieser Truthahn vom Bauern reichlich zu essen und weiss, dass der Bauer es ausgesprochen gut mit ihm meint. Das Wohlbefinden des Truthahns steigt täglich aus der Erfahrung der Vergangenheit. Das geht Tage, Wochen und Monate gut, solange bis der Truthahn glaubt, es könne ihm gar nicht besser gehen, kommt der Tag von Thanksgiving…“

Der Moment, in dem der Schlachter kommt, war aus der Vergangenheit nicht ersichtlich, daher völlig unerwartet - Thanksgiving ist für den Truthahn ein „Black Swan“ ein schwarzer Schwan, genauso wie die aktuelle globale Situation mit dem Coronavirus. 

Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr wie es war


Schulen und Unis werden dicht gemacht, hunderttausenden Unternehmern wird es per Gesetz für Wochen verboten ihre Tätigkeit auszuüben, Kranke müssen vom Gesundheitssystemen abgewiesen werden.

Massenweise Absagen von Veranstaltungen, kollektive Ausgangssperren, Eingriffe in Grundrechte, bedrohliche, vor allem unsichere Zeiten, niemand weiss wie es weitergeht.

Überforderte Systeme, starre Organisationen, Massenmedien mit „Bad News“ im Sekundentakt, wenn jetzt noch niemand eine Angststörung hat, dann mit Sicherheit jetzt. Man kann sich kaum dem kollektiven Wahn entziehen, der uns Menschen völlig überfordert. 

Der “Black Swan” ist gelandet

Wir scheinen weltweit gerade die Landung eines solchen „Black Swans“, eines schwarzen Schwans zu erleben. Manche von uns haben solch unvorhersehbare Ereignisse vielleicht in Form eines Unfalls oder eines plötzlichen Ablebens eines nahen Angehörigen schon erlebt. Seit Ende des 2. Weltkrieges hat aber unsere Welt kollektiv aber mit Sicherheit noch keinen „Black Swan“, einen schwarzen Schwan, erlebt. 

Ein „Black Swan“ ist aber kein neues Phänomen, in diesem Beitrag beleuchte ich die verschiedenen Erscheinungsformen.

Was ist ein „Black Swan“?

Die Idee vom „schwarzen Schwan“ als völlig unerwartetes Ereignis geht auf den römischen  Satiriker Juvenal  in das 1 Jahrhundert zurück, der seine treue Ehefrau  einen „seltenen Vogel am ähnlichsten einem schwarzen Schwan“ nannte.  Schwarze Schwäne waren über Jahrhunderte  in Europa völlig unbekannt, bis zum Jahr 1697: in Westaustralien wurden tatsächlich die ersten schwarze Schwäne gesichtet. Aus diesem Grund ist der Begriff eine Redensweise in der englischen Sprache geworden, der zur Metapher eines zwar unwahrscheinlichen, aber möglichen Ereignisses wurde.  Später diente der schwarze Schwan Sir Karl Popper als Beispiel für eine deduktive Falsifizierung. Wenn man hinterfragen wollte, ob alle Schwäne weiß wären, dann war nach  klassischer Sicht der Wissenschaftstheorie eine solche Hypothesen zu beweisen oder aus dem Beobachteten herzuleiten. Schwierig, da von Einzelfällen auf eine allgemein gültige Regel geschlossen werden müsste, was logisch nicht zulässig ist. Doch ein einziger schwarzer Schwan erlaubt den logischen Schluss, dass die Aussage, alle Schwäne seien weiß, falsch ist – eine Falsifikation!

In den letzten beiden Jahrzehnten ist die Theorie des „Black Swans“ vor allem durch das Buch von N. Taleb (2007) populärwissenschaftlich einer breiten Masse bekannt geworden. Teilweise heftig umstritten und oft im Zusammenhang mit der Finanzwelt bzw. der Erklärung von Börsencrashs zitiert, bietet es doch einen wichtigen Beitrag für das tiefere Verständnis des Phänomens des Black Swans: 

Was sind die Eigenschaften eines „Black Swans“?

  • Ausreißer

Das Ereignis muss  außerhalb dessen sein, was sich Menschen bisher auf Grund ihrer Erfahrungen vorstellen können. Menschen neigen einerseits dazu, aus dem Vergangenen in das Zukünftige zu schließen und andererseits tun sie sich schwer Dinge vorzustellen, die es bisher noch nicht gegeben hat. Im negativen wie auch im positiven Sinn. Taleb bezieht sich unter anderem auf Titus Lucretius Carus, Philosoph in der Tradition des Epikureismus, der in seinem Werk „de reum natura“ (deutsch Über die Natur der Dinge oder Vom Wesen des Weltalls) schon auf dieses Phänomen hingewiesen:

Nur der Narr glaubt, dass der höchste Berg der Welt dem höchsten entsprechen wird, den er beobachtet hat.“

Aus diesem Grund wird es auch Lucretius-Problem genannt, das was man sich nicht vorstellen kann, kann es nicht geben. Wir hatten in Europa in den letzten Jahren Seuchen, Epidemien, zuletzt hat Anfang des letzten Jahrhunderts die spanische Grippe Millionen von Menschen dahingerafft. Mit dem SARS oder der Schweinegrippe hatten wir auch schon in jüngerer Zeit Erfahrungen gemacht, wir hätten es sehen können, wenn wir es sehen hätten wollen. 

  • Signifikante Auswirkung

Das Ereignis eines „Black Swans“ hat verheerende und dramatische Auswirkungen, wie zum Beispiel in der näheren Geschichte die Terrorattacke des 11. Septembers 2001. Diese Auswirkungen können gesundheitlicher, finanzieller oder gesellschaftlicher Natur sein und betrifft global eine große Anzal von Menschen. Globalisierung und Vernetzung haben innerhalb von ein paar Wochen dafür gesorgt, dass alle Kontinente davon betroffen sind. 

  • Rationalisierungen

Das Ereignis eines „Black Swans“ wird Nachhinein gerne rationalisiert, obwohl man es im vornhinein nicht sehen oder erkennen konnte. Im Nachhinein werden solche Ereignisse in Form eines nachträglichen Schaffens einer Erzählung erklärt, um einem Ereignis einen plausiblen Grund zu verleihen.

Wenn man diese 3 Parameter für die aktuelle Situation um Covid 19 zu Grunde nimmt, dann kann sicherlich von einem „Black Swan“ gesprochen werden, der gerade unser gesamtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf den Kopf stellt. Es gibt zwar Hinweise, dass die aktuelle Infektionkrise durchaus als möglich angesehen wurde, dann würde man von einem “grauen Schwan” sprechen.

Systemtheoretischer Hintergrund 

Im Dezember 2019 ist der allererste Coronafall in der chinesischen Stadt Wuhan aufgetreten und Anfang Jänner 2020 gab es dazu die ersten Informationen aus den Medien. Innerhalb von nur 2 Monaten hat es dieser Virus geschafft, was vor ein paar Monaten noch denkunmöglich war. Verbreitung in über 100 Ländern, Ausgangsbeschränkungen von über 2 Milliarden Menschen…

Wie waren diese Entwicklungen schnell möglich?

Um das zu verstehen sollte man einen Blick auf die Theorien rund um Systeme werfen. 

Talcott Parsons gilt als wichtigster Urheber des sogennanten soziologischen Systembegriffs. Seine Theorie ist bemüht, die Gemeinschaft als Zusammenhang (=System) zu verstehen, in welchem das zwischenmenschliche Verhalten jedes Einzelnen die Struktur bildet. 

Ein System ist nicht irgendwo da draussen, sondern wir Menschen sind Teile von Systemen in Familien, Betrieben, Teams, Nationen, Gesellschaft oder wo auch immer. Wir beeinflussen in diesen Systemen uns gegenseitig, sind Teil des Systems und damit  existiert auch eine gegenseitige Abhängigkeit dieser Strukturen,  diese wird Interdependenz bezeichnet.

Dies ist insofern von Bedeutung, da wir Menschen gerne dazu neigen, Sündenböcke oder Schuldige zu suchen, Eigenverantwortung abzugeben und sich nicht verantwortlich zu fühlen. Gerade in sozialen Systemen wie Organisationen werden „die Anderen“ oder „der Chef“ als Schuldige benannt – aber in Systemtheorien ist jeder Teil von Systemen und trägt seinen Teil dazu bei.  

Fündig wird man vor allem auch bei Niklas Luhmann, dem bedeutendsten deutschen Soziologen des 20. Jahrhunderts, der die Theorie Parsons  durch den Begriff der “Operation“ als Grundlage jeden Systems erweiterte. Einer der wichtigsten Formen und Möglichkeiten von Operationen ist die Kommunikation.

Einen der spannendsten Zugänge im systemtheoretischen Zugang haben die beiden Biologen Humberot Maturan und Francisco Varela mit der Vertiefung des Begriffs der  „Autopoiesis“ eingebracht - Selbsterschaffung oder –erhaltung eines Systems. Demnach stellt Autopoiesis „...ein allgemeines Organisationsprinzip des Lebendigen...“ dar. Im Gegenteil dazu werden nicht lebendige Systeme allopoietisch bezeichnet, wie zum Beispiel Maschinen,  welche in Bezug auf ihre Herstellung und Erhaltung ausschließlich auf die Eingaben ihrer Umwelt - also auf den Menschen angewiesen sind. Dagegen sind autopoietische Systeme autonom, können ihre Strukturen selbst erzeugen, wollen sich selber erhalten und aus sich selber neues Neues erschaffen. 

In der Hoffnung, dass unsere Gesellschaft ein lebendiges und damit ein autopoietisches System ist, werden wir diese Krise überstehen. Wir haben aber in den letzten Jahren unsere  Systeme offenbar so geschaffen, dass sie auf Grund Ihres großen Vernetzungsgrades und Komplexität sehr verwundbar geworden sind. 

Welche Strategien gibt es in Zeiten des Black Swans?  

Kann man „Black Swans“ Ereignisse in der Tat nicht vorhersehen? Wie schon davor an andere Stelle geschrieben war dieses Ereignis nicht neu, wir hatten dies in der Geschichte schon oft erlebt. Doch Menschen neigen im Rahmen ihrer Erfahrungen zu denken und zu handeln, sind oft in Mustern festgefahren, mit wenig Handlungsspielraum. Im Rahmen der kognitiven Verzerrungen wird dies auch als Truthaneffekt beschrieben. Die Frage der Vorhersehbarkeit beim Coronavirus hat viele Facetten, ist wahrscheinlich auch müßig – aber viel spannender ist die Frage, was kann ein System tun, um nicht so anfällig zu werden?

Einen spannenden Ansatz vertritt Taleb mit der Unterscheidung zwischen Fragil, Robust und Antifragil. 

  • Fragilität

Fragil ist ein Produkt, wenn es bei großer Beanspruchung oder Belastung in Mitleidenschaft gezogen wird, durch Benutzung verschleißt wird. Wenn es dadurch mit der Zeit nicht mehr beansprucht wird, daher auch möglicherweise verschwindet.

Unsere komplexen Systeme sind aber gerade sehr fragil, weil sie eine lange und undurchsichtige Ursache-Wirkungs-Ketten haben.  Kleine Ursachen können indirekte, zeitverzögerte und irreversible Folgeerscheinungen haben. Es kommt zu Rückkoppelungen, die bei kritischen Belastungen das ganze System in einen instabilen und hochempfindlichen Zustand versetzen können. Lokale Störungen bleiben dann nicht lokal begrenzt, sondern breiten sich im System aus. Jeder ist Teil des Systems, das wissen wir aus der Systemtheorie, jeder trägt damit zur Verbreitung eines Virus bei. 

Fragilität, Zerbrechlichkeit, Brüchigkeit oder Anfäligkeit in sozialen Systemen sollten vermieden werden, um einen „Black Swan“ keine Chance zu geben. Dafür müssen aber die Teile eines Systems Verantwortung übernehmen, ob wir das in den letzten Jahren jeder von uns so getan hat, darf jeder für sich selber beantworten. 

  • Robustheit

Im Gegensatz dazu sind soziale Systeme oder Produkte robust, wenn sie einfachen aber auch stärkeren Belastungen Stand halten können. Soziale Systeme sind dann robust, wenn sie wenig vernetzt oder komplex sind, geringe Dynamik aufweisen, lokal begrenzt sind. 

Sie sind in den letzten Jahren sehr selten geworden, aber sind für die Vorbereitung eines „Black Swans“ auch nicht entscheidend – was  entscheidend ist, Antifragilität.

  • Antifragilität

Antifragil ist, was durch Belastungen gestärkt oder verbessert wird.  Schwierigkeiten oder Herausforderungen erhöhen die Aufmerksamkeit, Konzentration und Selbstwirksamkeit, was möglicherweise zu besseren Ergebnissen als routinemäßiges Erledigung führt. Wenn soziale Systeme (Teams, Abteilungen, Bereiche und Unternehmen) nicht gefordert werden, können sie inneffizient oder fragil werden. 

Ein soziales System ist dann antifragil, wenn es fähig ist an  schwierigen Situationen zu reifen und zu wachsen. Wenn es verschiedene Optionen hat und sich nicht nur abhängig macht von einzelnen Parametern. Wir können uns vorbereiten auf Situationen, indem wir resilient und selbstwirksam blieben, eine Frustrationstoleranz entwickeln. 

Beispiele in der Natur: Muskel und Knochenbelastungen erhöhen die Stärke von Knochen. Was nicht einer gesunden Belastung ausgesetzt ist, schwächt sich dauerhaft. 

Schwierigkeiten erhöhen die Aufmerksamkeit eines Systems, aus Fehlern lernen und dadurch wachsen und reifen – das passiert in sozialen Systemen oder in der persönlichen Entwicklung. 

Unternehmenskulturen mit einem “fixed mindset”

Das Gegenteil spiegelt sich oft Unternehmenskulturen oder Gesellschaften in Form eines „fixed mindsets“ wider, der von der US Amerikanerin Carrol Dweck geprägt wurde. Eine nach rückwärts gewandte Haltung, die alles Neuartiges nicht nur in Frage stellt, sondern es auch als Bedrohung ansieht. Wir verharren lieber in Komfortzonen und lieben Sicherheit, meiden Herausforderungen und Ungewissheit, wollen pragmatisieren und absichern. In Zeiten der Unsicherheit lassen sich aber Ungewissheit durch Pläne nicht in Gewissheit verwandeln. 

Wenn ich in den letzten Jahren über mögliche disruptive Prozesse gesprochen habe, dann habe ich immer auch ähnliche Antworten erhalten –Abwehr, Widerstand,  Ignoranz und Überheblichkeit. Sicherheit und Erfolg schafft diesen überheblichen Blick, macht nicht nur bequem und faul, sondern auch blind. Genau das wir uns bei einem „Black Swan“ zum Verhängnis. 

Wird die Welt nach der Landung des “Black Swans” eine andere sein?

Ob und wie die Welt nach der Landung des „Black Swans“ eine andere sein wird, das kann heute noch nicht gesagt werden – ich wage keine Prognose. Aber aus der Betrachtung des Phänomens des „Black Swans“, sowie der Systemtheorie ist für mich klar: in sozialen Systemen muss jeder Verantwortung übernehmen, wir müssen Reduktion von Komplexität schaffen, wir sollten unsere System - in Teams, Familien oder Organisationen - antifragil aufstellen, damit wir wachsen und reifen können. Dann wird der Spruch “never waste a good crisis” nicht eine hohle Phrase, sondern in der Tat eine Möglichkeit gestärkt aus der Krise zu kommen.

Weiterführende Tipps:

Buchtipp "The Black Swan" Nassim Nicholas Taleb

Buchtipp "Soziologie des Risikos" Niklas Luhmann

Online Talk mit Oliver Welter und Werner Sattlegger “Wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war.”

Online Kurs "Der kreative Mensch" mit Oliver Welter und Werner Sattlegger

Masterclass Intense “On Stage” - Die Bühne wird zur Lernzone für Führungskräfte und MitarbeiterInnen

Autor: Mag. Werner Sattlegger, Founder und CEO Art of Life

 
Werner Sattlegger Founder & CEO Art of Life

Werner Sattlegger
Founder & CEO Art of Life